Wer schon je in einem dieser inzwischen wieder aus der Mode gekommenen Kommunikationsseminare saß weiß, dass es bestimmte Sätze gibt, die auf solchen Events regelmäßig abgespult werden. Zum Beispiel der Klassiker von Paul Watzlawick “Man kann nicht nicht kommunizieren”. Was heißt, dass eine unbeantwortete Mail auch irgendwie ein selbstbewusstes Statement sein kann. Ebenso lernt man in solchen Veranstaltungen, dass es keine Probleme gebe, sondern nur Herausforderungen, und wer nicht kämpft schon verloren hat.
Man weiß hinterher, dass es einen Mann namens Friedemann Schulz von Thun gibt, der ein Vier-Ohren-Modell entwickelte und herausfand, dass es bei Kommunikation immer einen Sender und einen Empfänger gebe. Quasi wie beim Fernsehen. Außerdem sei für eine erfolgreiche Kommunikation eine “einladende Körpersprache” wichtig, genauso wie “Feedback” und “konstruktive Kritik”. Wesentlich sei auch, “sinnvolle und offene Fragen” zu stellen und sich “in den anderen hineinzufühlen”. Empathie sei alles, dann liefe jede Kommunikation wie geschmiert, so heißt es.
Das öffentliche Befinden nach den Anschlägen in Paris hat mich wieder an die alten Regeln der Kommunikationslehre denken lassen. Es scheint so, als würde die Debatte rund um den gewaltbereiten Islam seit Jahren in einem rhetorischen Stau feststecken. Islamkritiker hier, Islamversteher da, auf der einen Seite die Warner, auf der anderen die Beschwichtiger, alles dasselbe, Anschlag um Anschlag. Und alle fühlen sich als Opfer, der Westen, die Presse, die Demokratie, die Muslime. Insbesondere viele Muslime können sich nach dem Drama in Frankreich nicht entscheiden, was sie mehr beleidigt: der Missbrauch ihrer Religion durch Terroristen, oder der Missbrauch ihrer Religion durch Karikaturisten. Ein Dilemma, das für manche offenbar unlösbar scheint.
In Kommunikationsseminaren lehrt man den Zuhörern, sich in den Gesprächspartner hineinzuversetzen, sich in ihn hineinzufühlen. Seit Jahren schon können viele Muslime die Reaktionen des Westens auf islamistische Terrorakte nicht nachvollziehen. Muslime meinen, das habe nichts mit ihrer Religion zu tun. In Teilen des Westens ist man sich da nicht so sicher, man kann nicht nachvollziehen, warum Muslime behaupten, das hätte nichts mit dem Islam zu tun.
Also, liebe Muslime, machen wir das Empathie-Experiment und drehen den Spieß einmal um.
Stellt euch einen radikal-christlichen Gottesstaat von der Größe Bayerns, Österreichs und der Schweiz vor – so groß ist nämlich das Gebiet in Syrien und Irak, das der IS derzeit beherrscht. Nennen wir ihn CHRISBÖS: Christlicher Staat in Bayern, Österreich und der Schweiz. In dieser von einer Miliz beherrschten Region dürften nur Jesus und Maria angebetet werden, alle anderen würden hingerichtet.
CHRISBÖS hätte sich zum Ziel gesetzt, einen christlichen Gottesstaat von Schweden bis Somalia zu errichten. Sie würden Propagandavideos anfertigen, in denen zu sehen ist, wie statt der Kaaba ein Jesuskreuz in der großen Moschee von Mekka aufgestellt wird. Es gäbe Ernährungsvorschriften, die vorsehen, dass nur Bier getrunken und Schweinshaxe gegessen werden darf.
Dann stellt euch noch einen zusätzlichen christlichen Gottesstaat vor, oder sagen wir gleich zwei! Ja, stellt euch zwei weitere in ihrem Kern fundamentalistische christliche Gottesstaaten vor. Nicht von einer Miliz wie CHRISBÖS kontrolliert, sondern auf staatlichen Fundamenten errichtet. Staaten, in denen Muslime keine Moscheen bauen dürfen.
Wo jene, die vom christlichen Glauben abfallen gesteinigt oder gekreuzigt werden. Wo Frauen, die Minirock tragen wollen, festgenommen würden. Wo Männer, die Männer lieben, umgebracht würden. Wo Menschen, wenn sie nicht Bach hören oder Bibel lesen, eingesperrt und ausgepeitscht würden.
Es gibt diese christlichen Gottesstaaten nicht. Saudi-Arabien und Iran hingegen schon.
Stellt euch desweiteren einen christlichen Terroristen vor, der in einem Café in Marrakesch mehrere Geiseln nimmt. Der diese Tat beginge, nicht obwohl er Christ, sondern weil er Christ wäre. Weil er glaubt, seine Vorstellung von einer perfekten christlichen Welt anderen mit Gewalt aufzwingen zu müssen.
Stellt euch zwei Terroristen in Kairo vor, die sich auf Jesus berufen, einen Zeitungsverlag stürmen und die komplette Redaktion auslöschen.
Liebe Muslime, stellt euch vor, in manch europäischen Schulklassen würde Kindern beigebracht werden, Muslime zu hassen. Es würde ihnen gesagt, dass alles Übel im Westen nur von der islamischen Welt verursacht sei. Stellt euch vor, in christlichen Ländern würde Ägypten als großer und die Türkei als kleiner Satan angesehen werden.
In der Realität sind viele arabische Schulbücher voll mit Ressentiments gegenüber Juden. Amerika und Israel sind für zahlreiche Muslime des Teufels und der Westen ist oft für alles Übel in der islamischen Welt verantwortlich.
Liebe Muslime, stellt euch vor, christliche Terroristen würden einen Anschlag in drei Zügen der Metro von Kairo und in einem öffentlichen Bus verüben. Es würde über fünfzig Tote und siebenhundert Schwerverletzte geben. In London ist das im Juli 2005 genauso passiert.
Stellt euch vor, im Hauptbahnhof von Tunis würden zehn Sprengsätze detonieren, die 191 Menschen in den Tod reißen und mehr als 2.000 teils schwer verletzen würden. Es gab diesen Anschlag wirklich, aber nicht in Tunis, sondern in Madrid. Im März 2004.
Stellt euch vor, christliche Fundamentalisten wären mit Flugzeugen in zwei Türme im Finanzdistrikt von Dubai gerast, hätten dabei die Stadt in Trümmer gelegt und mehr als dreitausend Menschen mit in den Tod gerissen. Stellt Euch vor, zeitgleich wäre ein von radikalen Christen gesteuertes Flugzeug in die Al-Azhar Universität geflogen. Und ein viertes von christlichen Fundamentalisten gekapertes Flugzeug wäre nur aufgrund mutiger Passagiere nicht in die Blaue Moschee gedonnert, sondern kurz vor Istanbul auf einem Feld zerschellt.
Das ist zum Glück alles nicht passiert. 9/11 hingegen schon.
Nun stellt Euch vor, dass einige Christen auch untereinander sich täglich in die Luft sprengen, mit Autos in Menschenmengen rasen, die Köpfe abschneiden oder Hände abhacken würden und dabei stets lauthals “Amen!” rufen würden.
Stellt euch vor, auf der Ferieninsel Mallorca, mitten am Ballermann, würden christliche Terroristen in zwei Clubs Bomben zünden, die mehr als zweihundert Menschen in den Tod reißen und weitere zweihundert schwer verletzen würden.
Das ist wirklich passiert. Nur nicht auf Mallorca, sondern auf Bali, und die Attentäter waren keine radikalen Christen, sondern radikale Muslime.
Liebe Muslime, wie würdet ihr euch fühlen, wenn täglich radikale Christen weltweit im Namen ihres Gottes andere Menschen abschlachten und dabei laut “Hallelujah” rufen würden?
Stellt euch vor, alle großen Terroraktionen der letzten Jahre wären von bekennenden Christen im Namen ihres Glaubens durchgeführt worden. Das ist nicht geschehen. Die allermeisten großen Anschläge neben Oslo 2011 und Tokio 1995 wurden von Muslimen verübt. Stellt euch vor, eine immer größere Zahl an jungen Christen würde in den Extremismus abgleiten und ein christliches Weltreich fordern, in dem es keine Muslime mehr geben darf.
Und wie würdet ihr euch fühlen, wenn nach dem hundertsten Anschlag durch radikale Christen in Kairo, Beirut oder Alexandria arabische Politiker davon reden würden, dass das “nichts mit dem Christentum zu tun hätte”, dass dies vorallem Anschläge “auf das Christentum” seien und man nun “alle Christen in Schutz nehmen” müsse?
Wie würdet ihr euch fühlen, liebe Muslime, wenn in der christlichen Welt arabische und türkische Botschaften abgefackelt würden, nur weil ein paar Muslime einen bösen Jesus gezeichnet hätten? Würdet ihr euch die Schuld am christlichen Aufruhr selbst in die Schuhe schieben?
Wie würdet ihr euch fühlen, wenn in den letzten zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren dutzende christliche Terrororganisationen entstanden wären?
Es gibt diese christlichen Terrororganisationen nicht, aber es gibt Al-Qaida, Jemaah Islamiyah, Al-Nusra, Boko Haram, IS, Islamische Dschihad-Union, Islamische Bewegung Usbekstans, Al-Shabaab, Hamas, Ansar al-Sharia, Hisbollah, Deutsche Taliban Mudschaheddin, und etliche mehr.
Wie würde es euch gehen, wenn islamische Geistliche nach einem Anschlag durch Christen zum “interkulturellen Dialog” mit den Christen aufrufen würden? Würdet ihr es nicht auch seltsam finden, wenn fast alle arabischen und türkischen Experten den christlichen Terror mit Armut, Testosteron oder Psychosen erklären würden? Wie würdet ihr euch dann fühlen? Würdet ihr euch nicht, ähem, ein wenig verarscht vorkommen?
Würdet ihr dann auch sagen, das hätte alles nichts mit dem Christentum zu tun, so wie heute ständig beschworen wird, das habe alles nichts mit dem Islam zu tun?
Würdet ihr nach Terroranschlägen von christlichen Fundamentalisten an Muslimen behaupten, die Taten waren in erster Linie Anschläge gegen das Christentum?
Wärt ihr nicht viel eher der Meinung, der Vatikan, die Kirchen, der Westen müssten dieser Gewalt ein Ende setzen, dagegen aufbegehren und zu tiefgreifenden Reformen anstoßen?
Würdet ihr nicht auch denken, der Terror komme aus den eigenen Reihen der globalen Christenheit, die diese zum Wohl aller irgendwie unter Kontrolle bringen müsse?
Aber das ist nur ein Gedankenexperiment.
Liebe Muslime, es wäre ganz hilfreich von euch, endlich den einen Satz zu sagen, auf den die ganze Welt wartet. Anstatt immer wieder gebetsmühlenartig zu wiederholen, die Attentäter von Paris, New York, Madrid können keine Muslime sein, einmal einzugestehen: “Auch ein Moslem kann ein Terrorist sein”. Das wäre ein Anfang. Vielleicht sehen wir uns beim nächsten Seminar, wenn es heißt: “Achte auf deine Ausstrahlung – Zehn Tipps für ein gelingendes Miteinander!”.
Text von Oliver Jeges
Erschienen auf: Achgut und Von Musen und Maultieren